Mittwoch, 09.11.2022, 20 Uhr

Prof. Dr. Jeremy Adler: Goethe. Die Erfindung der Moderne
 
Mit einer gewissen Ironie nannte man Jeremy Adler wohl wegen seines politischen Engagements, zumal in der Sache der neuen Edition von Hitlers "Mein Kampf", „den bekanntesten Germanisten in Deutschland” (Heinrich Detering).

Seine Interessen reichen von der Barockpoesie bis zur Romantik und zur Avantgarde: Zu den Autoren, die er behandelt hat, gehören Günther und Haller, Novalis und Hölderlin, Kafka und Rilke sowie Stramm und die experimentelle Poesie. Er edierte die Werke seines Vaters H.G. Adler und des Sozialanthropologen Franz Baerman Steiner. Auch schrieb er maßgebliche Arbeiten zur Shoah und hat sich vielfach politisch engagiert. Zu den Begebenheiten, zu denen er sich äußerte, gehören der Prager Frühling, die Europakrise, die Flüchtlingsfrage und der Brexit, den er in mehreren Zeitungen wie der FAZ, der SZ und der NZZ behandelte. Neulich hat er sich besonders für die Fragen der Ukraine eingesetzt.


Den Mittelpunkt von Jeremy Adlers Arbeiten stellen seine Goethe Studien dar. Er wirkt seit Jahrzehnten im Vorstand der Englischen Goethe Gesellschaft und war auch acht Jahre lang im Vorstand der Internationalen Goethe Gesellschaft. Diese Arbeit setzt er jetzt im Aufsichtsrat des Freien Deutschen Hochstifts fort. Zu seinen Auszeichnungen gehören die Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Jeremy Adlers neues Buch begründet eine neue Gattung – die kulturelle Biographie. Mit den Methoden der Soziologie und der Sozialanthropologie zeigt er, wie Goethe im Mittelpunkt der europäischen Kultur steht. Von Sokrates bis Kant und Habermas begleitet Goethes Denken die Philosophie, von Aristoteles bis Newton und Einstein führt Goethe eine neue Form der Naturwissenschaft ein, und von Hobbes und Montesquieu bis hin zu Max Weber formte Goethe das soziale Denken um. Besonders wichtig war auch Goethes Darstellung der politischen Ökonomie: Er kannte das Werk von Adam Smith, den ersten Denker des Kapitalismus, und beeinflusste die wichtigsten Köpfe der Moderne, namentlich Karl Marx. Nicht weniger wichtig war Goethes politische Wirkung, die man in der Verfassung der Weimarer Republik und im Grundgesetz wiedererkennt. Als Freund der liberalen Denker Benjamin Constant und Wilhelm von Humboldt wirkte auch Goethe als ein Mitbegründer des Liberalismus: Sein Faust ist das Gedicht des Liberalismus schlechthin. So war Goethe nicht nur ein Vater der modernen Dichtung, sondern ein Gestalter der Moderne überhaupt.

Jeremy Adler macht deutlich, was Goethes "Götz von Berlichingen" mit Tschechow und Ibsen zu tun hat, der "Werther" mit Flaubert und Proust oder der "Faust" mit Musil, Joyce und Simone de Beauvoir.
Von Darwin und Marx bis zu Weber und Einstein haben die Wissenschaften von Goethes Schaffen gezehrt. Gleichwohl war Goethe kein einsames Genie. Jeremy Adler zeigt ihn in seinen zeitgenössischen Kontexten, die halb Europa umspannten, und erzählt von Goethes Begegnungen mit den Großen seiner Zeit, von Beethoven bis Napoleon. Auf diese Weise gewinnt er frische Perspektiven auf Goethes wichtigste Werke, auf sein Leben, sein naturwissenschaftliches Denken und sein politisches Wirken.
Und wir begreifen, warum Goethe zu lesen noch immer so aufregend sein kann.  



Jeremy Adler: Goethe. Die Erfindung der Moderne. Übersetzt von Michael Bischoff. Beck 2022. 655 S. mit 69 Abb. Geb. 34,0ß0 €

Das Buch erscheint am 13.10 2022.

 Jeremy Adler wurde 1947 als Sohn des Schriftstellers H.G. Adler geboren. Er ist Professor Emeritus für Germanistik und Senior Research Fellow am King's College London.

Jeremy Adler hat Germanistik und Anglistik in London und Soziologie und Amerikanistik in Köln studiert.

Seine Spezialgebiete in der Literatur sind das Zeitalter des Barock, die deutsche Klassik und Romantik, sowie die klassische Moderne, die Literatur der Shoa und die Literatur des Exils. Es gibt zahlreiche Veröffentlichungen von ihm zu Goethe, Hölderlin, Rilke, Kafka, Canetti u.a. 1987 erschien seine Monographie zu Goethes Wahlverwandtschaften und (mit Ulrich Ernst) der Katalog „Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne" (3. Auflage, 1989). Seine Edition der Dichtungen von August Stramm erschien 1990, den Roman „Eine Reise" von H. G. Adler edierte er 1999. Mit Richard Fardon gab er eine zweibändige Ausgabe der „Selected Writings" von Franz Baermann Steiner heraus (Oxford und New York, 1999 - auf Deutsch 2008 bei Wallstein unter dem Titel „Zivilisation und Gefahr" erschienen). Außerdem publizierte er mehrere selbständige Lyrik-Bände, darunter „At the Edge of the World“ (1994).

Er schreibt regelmäßig für The Times Literary Supplement und auch für die deutschsprachige Presse. Seit 2005 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Er war mehrmals Stipendiat an der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, sowie zweimal Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

Veröffentlichungen (Auswahl)

The Great Transformation. IMLR. London. 2019.

Johann Wolfgang Goethe. Reaktion Books. London. 2020.

Mit Richard Fardon: Franz Baermann Steiner. A Stranger in the World. Berghahn. Oxford und NY. 2022.

Das bittere Brot. Wallstein. 2015.

Das absolut Böse. Zur Neuedition von Mein Kampf. 2017.

Mit Richard Fardon: Hg. Zivilisation und Gefahr. Wallstein.

Mit Carol Tully: Hg. Über Franz Baermann Steiner. Wallstein

Hg. David Rousset. Das KZ Universum. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. 2020.

Goethe. C.H. Beck. 10 / 2022.

Hg. H.G. Adler Theresienstadt. Wallstein.

Hg. H.G. Adler Andere Wege. Gesammelte Gedichte. Drawa.

Hg. H.G. Adler Gesammelte Erzaehlungen. Vier Bde. Loecker Verlag





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