Prof. Dr. Michael Erler: Warum alte Texte lesen? Lesen als Mitarbeit am Text
Warum alte Texte lesen? Lesen als Mitarbeit am Text
Jeder, der sich mit antiken Texten befasst, wird wohl schon einmal mit der Frage nach der Relevanz dieser Lektüre konfrontiert gewesen sein. Die moderne Philologie hat sich darüber viele Gedanken gemacht. Hier soll daran erinnert werden, dass und wie dies schon in der Antike geschah. Anlass sind Zeugnisse neueren Datums aus dem Kontext der epikureischen Philosophie, in denen eine philologische Beschäftigung mit Texten mit dem Anspruch verbunden wird, neben dem Text selbst auch die Relevanz der Lektüre für die Rezipienten im Blick zu haben. Diese Haltung wird moderne Philologen irritieren. Man mag geneigt sein, sie als weitere Besonderheit der epikureischen Schule zu registrieren. Sieht man genauer hin, erweist sie sich jedoch als eine Facette der antiken Lesekultur, die man bis in die Kaiserzeit verfolgen kann und deren Merkmale ansatzweise schon bei Platon diskutiert werden. Diese ›aktive‹ Leseweise verdient auch deshalb Aufmerksamkeit, weil Strukturelemente antiker Texte offenbar an diese Lesehaltung appellieren und mit Blick auf sie Profil erhalten. Indem sie Verantwortung der Leser für Konstitution und Deutung von Texten voraussetzt und reflektiert, verleiht sie modernen Positionen (›Geburt des Lesers‹) historischen Hintergrund und kann zudem vielleicht einen antiken Beitrag zur modernen Nützlichkeitsdebatte leisten.
Michael Erler: Warum alte Texte lesen? Antike ‚Interpretatio medicans‘ und moderne Philologiekritik. Kröner 2025. 120 S. Ln 19,90 €
Heidelberger Akademische Bibliothek Bd 17
Prof. Dr. Michael Erler, bis 2019 Ordinarius für Klassische Philologie an der Universität Würzburg, ist derzeit Seniorprofessor und Vorsitzender der Direktoriums des ›Siebold Collegium. Institute for Advanced Studies (SCIAS)‹ der Universität Würzburg. Autor und Herausgeber. Zahlreicher Bücher und Artikel u.a. über Platon, Platonismus, Epikur und die epikureische Tradition. Er war Präsident der International Plato Society (2001–04), der Gesellschaft für antike Philosophie (2007–10), der Sokratischen Gesellschaft (2010–18) und erster Vorsitzender der Mommsen Gesellschaft (2013–2015).
Veröffentlichungen in kleiner Auswahl:
1.
Platon: Gorgias. Griechisch/Deutsch. Literatur verstehen; das geschriebene Wort; Theorien; Erläuterungen. Herausgegeben und übersetzt von Michael Erler. Reclam 342 S. Kart. 10,80 €
2.
Plato: Nomoi. Platon – Logik und Ethik. Herausgegeben und übersetzt von Michael Erler
und Klaus Schöpsdau. Reclam 2019. 732 S. Kart. 24,00 €
3.
Platon: Euthydemos. Übersetzung und Kommentar von Michael Erler. Vandenhoeck und Ruprecht 2017. 283 S. Geb. 75,00 €
Der Dialog Euthydemos gehörte lange zu den von der Forschung vernachlässigten Dialogen Platons. Ursache mögen auch jene komödienhaften Züge gewesen sein, die ihn in formaler und inhaltlicher Hinsicht in besonderem Maße auszeichnen. Allmählich hat sich jedoch die Bereitschaft durchgesetzt, im Spielcharakter der vorgeführten Schaustücke und ihrer literarischen Gestaltung ein Glanzstück Platonischer Komödienkunst zu sehen. Zudem erweisen sich der Spielcharakter der vorgeführten Streitkunst, das Verhalten der beiden Streitkünstler und der Inhalt der Schaustücke als kunstvoll gestaltet, insofern sie sich als negatives Spiegelbild zum Ernst Platonischer Methode, Platonischer Philosophie und des Platonischen Philosophen erweisen. Der Bezug zwischen spielerischen und ernsten Elementen im Dialog entspricht Platons Auffassung vom Komödienhaften, das auch im philosophischen Kontext akzeptabel ist. Im Euthydemos haben Platon der Autor und Platon der Philosoph Hand in Hand gearbeitet.
Der vorliegende Kommentar möchte für die positivere Sichtweise des Dialoges werben. Übersetzung und sprachliche, sachliche und philosophische Kommentierung bringen dem Leser den engen Zusammenhang zwischen literarischer Gestaltung und philosophischer Botschaft nahe. Die Übersetzung eröffnet dem Leser einen Zugang zu Form und Gehalt des Dialoges. Der Kommentar bietet zunächst Einführungen in die einzelnen Abschnitte und liefert fortlaufend einzelne Sachinformationen und Erläuterungen zu Sprache, textkritischen Problemen und Parallelen in anderen Dialogen Platons.
Der Euthydemos macht die sophistische Streitkunst selbst zum Thema. In kontrastierender Darstellung wirbt der Dialog eindrucksvoll für die Philosophie und philosophische Kommunikation.
4.
Michael Erler: Kleines Werklexikon Platon. Kröner 2007. 131 S. Geb. 12,00 €
Wer sich rasch und fundiert über die Werke Platons orientieren möchte, ist mit diesem Band bestens ausgerüstet. Sämtliche Werke Platons werden, alphabetisch nach Titeln geordnet, in knappen, gut verständlichen Kurzdarstellungen vorgestellt. Neben den Werken, die zweifellos von Platon verfasst sind, finden auch diejenigen Berücksichtigung, die unter dem Namen Platons im sogenannten ›Corpus Platonicum‹ überliefert worden sind, deren Echtheit jedoch umstritten ist. Reichhaltige bibliographische Angaben zu jedem Werk führen zu Ausgaben, Übersetzungen, Kommentaren und der Forschungsliteratur. Der lexikalische Teil ist eingebettet in einen Rahmen, der den engeren Entstehungs- und Überlieferungskontext erschließt sowie Verständnishilfen und zusätzliche Nachschlagemöglichkeiten bereitstellt. Der Vorspann enthält eine Kurzvita, eine Zeittafel sowie Hinweise zum Gesamtwerk mit bibliographischen Angaben. Im Anhang kann sich der Leser über die Personen in Platons Werken (Who’s who), charakteristische Begriffe und Lehren (Begriffsglossar) und die Themen der einzelnen Werke (Themenregister ) orientieren. Ein Register mit Titelvarianten beschließt den Band.
5.
Michael Erler: Sokrates in der Höhle. Aspekte praktischer Ethik im Platonismus der Kaiserzeit.
Mohr Siebeck 2020. 250 S. Kart. 29,00 €
Sokrates hat als Figur in der kaiserzeitlichen Philosophie nicht zuletzt auch bei der Auseinandersetzung mit dem Christentum eine Rolle gespielt. Dass dies auch für Aspekte der praktischen Ethik gilt, die mit seinem Namen verbunden werden, ist mit Blick auf die wachsende Jenseitsorientierung der kaiserzeitlichen, platonisch dominierten Philosophie bestritten worden. Michael Erler zeigt, dass die von Sokrates im Gorgias als 'wahre Politik' bezeichnete praktische Anwendung philosophischer Methoden gleichwohl auch im späteren Platonismus eine Rolle spielte und als Hilfestellung für das Leben im Diesseits letztlich der Befreiung der Seele für das Jenseits diente.
6.
Michael Erler: Platonische Dialoge im Kontext. Interpretationen zu philosophischen, politischen und literarischen Aspekten. Rombach 2018. 256 S. Kart. 38,00 €
Der Band enthält Beiträge über philosophische, gesellschaftlich-historische und literarische Aspekte der Platonischen Dialoge. Diskutiert werden Argumentationsformen im Kontext einer philosophischen Rhetorik, Fragen über den Umgang mit dem Tod oder Gefahren des Polytheismus, die Funktion der Dialoge im Platonismus, das Verhältnis von Mythos und Historie oder die Rezeption Sokratisch-Platonischer Vorstellungen in anderen philosophischen Schulen (z.B. im Epikureismus). Die Aufsätze basieren auf Beiträgen zu interdisziplinären Ringvorlesungen, Sammelbänden oder schulischen Veranstaltungen.
7.
Michael Erler: Platon. Schwabe 2007. 792 S. Geb. 160,00 €
Die Philosophie der Antike 2/2
Der Band steht in der von Friedrich Ueberweg und Karl Praechter vertretenen Tradition philosophiehistorischer Darstellung, die sich durch eine enge Verbindung von Philosophie und Philologie auszeichnet.
8.
Michael Erler: Epicurus. An Introduction to his Practical Ethics and Politics.
Schwabe 2019. 166 S. Kart. 44,00 €
9.
Michael Erler: Lustkalkül, Askese und Weltoffenheit. Epikurs Lehre im Spannungsfeld von Tradition und Innovation. Schwabe 2025. 76 S. Kart. 14,00 €
(Jacob Burckhardt Gespräche aus Castelen 44)
Nüchternes Abwägen, Weltoffenheit, Zuversicht: Epikurs Vademecum für ein glückliches Leben
Epikurs Lehre steht für eine Lebensform, die auf der Fähigkeit basiert, in jeder Situation nüchtern-rational zu prüfen, ob und wie diese lebensweltlichen Herausforderungen zum eigenen Glück zuträglich sein können. Voraussetzung hierfür ist die Bereitschaft, sich mit neuen Gegebenheiten kritisch auseinanderzusetzen und sie in Epikurs Sinne zu verstehen. Treue gegenüber Grundüberzeugungen geht bei den Epikureern also einher mit reflektierter Weltoffenheit. Flexibilität, rationale Beurteilung und Zuversicht, nicht aber Abschottung und starre Orthodoxie tragen zu Sicherheit und dem erstrebten Glück im Leben bei. Diese Merkmale sind wohl mitverantwortlich für den nachhaltigen Einfluss im kulturellen und politischen Leben der griechisch-römischen Antike. Und auch in unserer von Umbrüchen, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit gekennzeichneten Zeit können sie Anregungen geben und Perspektiven eröffnen.